Informelles Lernen wird gesellschaftsfähig

Vom ungenutzten Potenzial zur messbaren strategischen Ressource

Die digitale Transformation, verkürzte Innovationszyklen und der demografische Wandel zwingen Unternehmen zu einer radikalen Neubewertung ihrer Lern- und Entwicklungsstrategien. Traditionelle, formalisierte Trainingsprogramme stoßen an ihre Grenzen. Sie sind oft zu langsam, zu starr und zu weit vom tatsächlichen Arbeitsalltag entfernt, um die erforderliche organisationale Agilität zu gewährleisten. In diesem dynamischen Umfeld rückt eine lange unterschätzte, aber entscheidende Lernform in den strategischen Fokus: das informelle Lernen.

Autor: Dr. Walter Lieberei

Warum informelles Lernen zur strategischen Notwendigkeit wird

Die Arbeitswelt befindet sich in einem permanenten Wandel. Kompetenzen, die heute erfolgskritisch sind, können morgen bereits veraltet sein. Unternehmen müssen daher eine Kultur des kontinuierlichen Lernens etablieren, die es Mitarbeitenden ermöglicht, sich schnell und bedarfsgerecht weiterzuentwickeln. Hier setzt das Konzept des informellen Lernens an, das in der Praxis den Löwenanteil der Kompetenzentwicklung ausmacht.

Ein populärer, wenn auch wissenschaftlich umstrittener, Bezugsrahmen ist das 70-20-10-Modell. Es postuliert, dass Individuen rund 70 % ihres beruflichen Wissens durch Erfahrungen direkt am Arbeitsplatz (informell), 20 % durch den Austausch mit anderen (sozial) und nur 10 % durch formale Trainingsmaßnahmen erwerben. Obwohl die exakten Prozentzahlen oft kritisiert werden und die empirische Grundlage als schwach gilt, hat das Modell die Aufmerksamkeit auf die immense Bedeutung des Lernens gelenkt, das außerhalb strukturierter Seminarräume stattfindet. Die strategische Notwendigkeit besteht darin, dieses überwiegend zufällige und unsichtbare Lernen sichtbar, steuerbar und damit für die Unternehmensziele nutzbar zu machen.

Das Spektrum des informellen Lernens: Definition und Erscheinungsformen

Um das Potenzial des informellen Lernens zu heben, bedarf es einer klaren Definition. In Abgrenzung zum formalen Lernen (z. B. zertifizierte Kurse) und non-formalen Lernen (z. B. freiwillige Workshops ohne Zertifikat) lässt sich informelles Lernen am Arbeitsplatz wie folgt definieren:

„Informelles Lernen am Arbeitsplatz ist ein intentionaler, von der lernenden Person selbst gesteuerter und auf Problemlösung ausgerichteter Prozess aus behavioralen und kognitiven Aktivitäten in arbeitsbezogenen Situationen, der weder institutionell organisiert noch pädagogisch begleitet wird."

Die Forschung unterscheidet dabei drei zentrale theoretische Perspektiven:

  1. Dimensionale Ansätze: Sie verorten Lernaktivitäten auf Kontinua zwischen Polen wie "strukturiert vs. unstrukturiert" oder "extern gesteuert vs. selbstgesteuert".
  2. Lernquellenbasierte Ansätze: Sie fokussieren auf die Quellen des Lernens, etwa das "Lernen von sich selbst" (z. B. durch Reflexion), das "Lernen von anderen" (z. B. durch Feedback) oder das "Lernen aus nicht-interpersonellen Quellen" (z. B. Internetrecherche).
  3. Prozessorientierte Ansätze: Sie modellieren informelles Lernen als dynamischen, oft zyklischen Prozess, der typischerweise Komponenten wie Lernintention, Handlung, Feedback und Reflexion umfasst.

In der Praxis manifestiert sich informelles Lernen in vielfältigen Formen:

  • Lernen am Arbeitsplatz (Learning by Doing): Das direkte Ausprobieren neuer Lösungswege und das Lernen aus Fehlern.
  • Soziales Lernen: Der Austausch mit Kollegen, das Einholen von Feedback von Vorgesetzten oder das Beobachten von Experten ("Learning from Others").
  • Mentoring und Coaching: Die gezielte, aber nicht formalisierte Begleitung durch erfahrenere Personen.
  • Communities of Practice (CoPs): Gruppen von Mitarbeitenden, die ein gemeinsames Interesse an einem Thema haben und ihr Wissen und ihre Erfahrungen teilen.
  • Selbstgesteuertes Lernen: Die eigenständige Recherche in internen Wikis, Datenbanken oder dem Internet zur Lösung eines konkreten Arbeitsproblems.

Mythos oder Fakt: Die Validierung der Lernwirksamkeit

Lange wurde informelles Lernen als "weiche", nicht quantifizierbare Form der Kompetenzentwicklung abgetan. Wissenschaftliche Meta-Analysen zeichnen jedoch ein völlig anderes Bild und belegen eindrucksvoll dessen hohe Wirksamkeit.

Eine der umfassendsten Meta-Analysen von Cerasoli et al. (2018), die Daten von über 55.000 Arbeitnehmenden einschloss, kam zu dem Ergebnis, dass informelles Lernverhalten signifikant positiv mit erfolgskritischen Kriterien korreliert:

  • Leistung (Performance): (ρ = .42)
  • Wissens- und Fähigkeitserwerb: (ρ = .41)
  • Positive Arbeitseinstellungen (z. B. Engagement, Arbeitszufriedenheit): (ρ = .29)

Besonders aufschlussreich ist der direkte Vergleich mit formalen Trainings. Die Analyse von Cerasoli et al. ergab, dass Mitarbeitende, die sich intensiv an informellem Lernen beteiligen, eine im Durchschnitt 32 % höhere Arbeitsleistung zeigten. Im Vergleich dazu führten formale Trainingsmaßnahmen laut einer früheren Meta-Analyse zu einer Leistungssteigerung von rund 23 %. Diese Daten belegen, dass informelles Lernen dem formalen Lernen nicht nur ebenbürtig, sondern in Bezug auf den direkten Leistungseinfluss sogar überlegen sein kann. Die Nähe zum Arbeitsprozess und die unmittelbare Anwendbarkeit des Gelernten sind hierfür entscheidende Gründe.

Vom Bauchgefühl zur Kennzahl: Internationale Standards zur Messung

Die größte Herausforderung für die strategische Verankerung des informellen Lernens war bisher seine Messbarkeit. Wie kann etwas, das oft spontan und unsichtbar geschieht, in Kennzahlen erfasst und für das Reporting nutzbar gemacht werden? Eine Antwort auf diese Frage liefert die Internationale Organisation für Normung (ISO) mit einer Reihe von Standards für das Humankapital-Management.

Zwei Standards sind hierbei von zentraler Bedeutung:

  1. ISO 30422:2022 – Human resource management — Learning and development: Diese Norm bietet einen prozessorientierten Leitfaden für die Organisation von Lern- und Entwicklungsaktivitäten. Sie basiert auf dem etablierten Plan-Do-Check-Act (PDCA)-Zyklus und fordert explizit die Berücksichtigung und Förderung von formalem und informellem Lernen.
  2. ISO/TS 30437:2023 – Human resource management — Learning and development metrics: Dieser technische Standard ist der eigentliche "Werkzeugkasten" für die Messung von L&D. Er schafft erstmals einen globalen, konsistenten Rahmen für die Bewertung von Lernprozessen und komplementiert die Prozessnorm ISO 30422 um konkrete Messinstrumente.

Das Herzstück der ISO/TS 30437 ist das "5-4-3-Framework":

  • 5 Nutzerkategorien: Wer benötigt die Metriken? (z. B. Top-Management, Teamleiter, Lernende)
  • 4 Messzwecke: Warum wird gemessen? (Informieren, Überwachen, Evaluieren, Steuern)
  • 3 Metrik-Typen: Was wird gemessen? (Effizienz-, Effektivitäts- und Ergebnismetriken)

Entscheidend ist, dass der Standard explizit Metriken zur Erfassung des informellen Lernens vorschlägt. Dazu gehören unter anderem:

  • Percentage of employees reached by informal learning
  • Active communities of practice (CoPs)
  • Active CoP members
  • Percentage of employees using the learning portal
  • User satisfaction with learning portal (or content)
  • User satisfaction with communities of practice

Diese Kennzahlen ermöglichen es Unternehmen, die Nutzung und den Wert von Wissensdatenbanken, internen sozialen Netzwerken, Mentoring-Programmen und anderen Plattformen des informellen Austauschs systematisch zu erfassen und zu optimieren.

Praxisbeispiel: Implementierung der ISO/TS 30437 bei der "InnoSys GmbH"

Um die praktische Anwendung zu verdeutlichen, betrachten wir ein fiktives mittelständisches Unternehmen: Die "InnoSys GmbH", ein deutscher Hightech-Zulieferer mit 720 Mitarbeitenden in einem hochdynamischen Marktumfeld. Die Personalentwicklung steht vor der Herausforderung, die Innovationsgeschwindigkeit zu erhöhen und das wertvolle Expertenwissen besser im Unternehmen zu verteilen.

Zielsetzung: Die L&D-Abteilung entscheidet sich, das informelle Lernen gezielt zu fördern und dessen Erfolg mithilfe ausgewählter Kennzahlen aus ISO/TS 30437 messbar zu machen. Hauptziele sind die Beschleunigung des Wissenstransfers in der F&E-Abteilung und die Steigerung der Problemlösungskompetenz im technischen Support.

Schritt 1: Auswahl der Kennzahlen (KPIs) Basierend auf den Zielen wählt die InnoSys GmbH drei Kern-Metriken aus:

1. Active communities of practice (CoP) (#38): Ziel ist es, den Austausch zwischen F&E-Teams zu stärken. Es werden dedizierte digitale Räume (z. B. in MS Teams) für Schlüsseltechnologien eingerichtet. Als KPI wird die Anzahl der aktiven CoPs und deren Mitgliederzahl (Active CoP members, #39) monatlich erfasst.

  • Messung: Automatisierte Auswertung der Nutzungsdaten der Kollaborationsplattform.

2. Unique users of online content (#32): Eine interne Wissensdatenbank (Wiki) soll zur zentralen Anlaufstelle für technische Problemlösungen werden. Es wird die Anzahl der einzigartigen Nutzer erfasst, die auf die Inhalte zugreifen.

  • Messung: Analyse der Logfiles des Wiki-Systems.

3. User satisfaction with performance support tools (#51): Der technische Support nutzt eine Datenbank mit Checklisten und FAQs. Die Zufriedenheit mit der Nützlichkeit und Aktualität dieser informellen Lernressourcen wird regelmäßig evaluiert.

  • Messung: Quartalsweise Kurzbefragungen (Pulsumfragen) direkt im System nach der Nutzung eines Tools.

Schritt 2: Implementierung und Reporting Die L&D-Abteilung erstellt ein Dashboard, das diese KPIs aggregiert und für das Management und die Teamleiter aufbereitet.

Auszug aus dem L&D-Dashboard der InnoSys GmbH (Q3/2025):

Kennzahl

Zielwert

Ist-Wert Q3

Trend vs. Q2

Anzahl aktiver F&E-CoPs

5

6

Aktive CoP-Mitglieder

120

135

Einzigartige Nutzer Support-Wiki (monatl. Ø)

250

285

Zufriedenheit mit Support-Tools (Skala 1-5)

4.0

4.2

Ergebnis: Durch die systematische Erfassung kann die InnoSys GmbH nachweisen, dass ihre Initiativen zur Förderung des informellen Lernens (z. B. die Etablierung der CoPs) angenommen werden und einen messbaren Nutzen stiften. Die Daten dienen als Grundlage für datenbasierte Entscheidungen, etwa zur gezielten Förderung besonders aktiver CoPs oder zur Verbesserung der Inhalte im Support-Wiki.

Fazit: Stärken, Schwächen und der Weg nach vorn

Informelles Lernen ist die dominante Form der Kompetenzentwicklung am Arbeitsplatz. Seine Integration in eine strategische Personalentwicklung ist kein "Nice-to-have" mehr, sondern eine betriebswirtschaftliche Notwendigkeit.

Stärken:

  • Agilität und Bedarfsorientierung: Gelernt wird genau dann, wenn ein Problem auftritt.
  • Praxisnähe und Transferstärke: Da das Lernen direkt im Arbeitsprozess stattfindet, entfällt die oft zitierte "Transferlücke".
  • Kosteneffizienz: Viele Formen des informellen Lernens verursachen geringere direkte Kosten als formale Trainings.
  • Förderung der Selbstverantwortung: Mitarbeitende werden zu aktiven Gestaltern ihrer eigenen Entwicklung.

Herausforderungen:

  • Schwere Steuerbarkeit: Inhalte und Qualität sind schwer zu kontrollieren. Es besteht das Risiko, dass falsches Wissen oder ineffiziente Praktiken weitergegeben werden ("dunkle Seite des Lernens").
  • Messbarkeit: Trotz der neuen ISO-Standards bleibt die valide Erfassung eine anspruchsvolle Aufgabe, die oft auf Nutzungsdaten oder Selbsteinschätzungen beruht.
  • Qualitätssicherung: Die Sicherstellung der inhaltlichen Richtigkeit und didaktischen Qualität ist eine zentrale Herausforderung.

Der Weg nach vorn liegt nicht darin, formales Lernen durch informelles zu ersetzen. Vielmehr müssen Unternehmen ein integriertes Lernökosystem schaffen, in dem formale, soziale und informelle Lernformen strategisch miteinander verknüpft sind. Formale Trainings können die Grundlage schaffen und Impulse für die informelle Weiterentwicklung geben. Soziale Plattformen und eine Kultur der psychologischen Sicherheit fördern den Austausch, während die Arbeit selbst als reichhaltigste Lernumgebung gestaltet wird. Internationale Standards wie ISO/TS 30437 liefern dabei den notwendigen Kompass, um diese wertvollste Ressource – das alltägliche Lernen der Mitarbeitenden – endlich messbar, sichtbar und strategisch steuerbar zu machen.

Quellenverzeichnis

Cerasoli, C. P., Alliger, G. M., Donsbach, J. S., Mathieu, J. E., Tannenbaum, S. I., & Orvis, K. A. (2018). Antecedents and outcomes of informal learning behaviors: a meta-analysis. Journal of Business and Psychology, 33(2), 203–230. https://doi.org/10.1007/s10869-017-9492-y

Clardy, A. (2018). 70-20-10 and the dominance of informal learning: A fact in search of evidence. Human Resource Development Review, 17(2), 153–178. https://doi.org/10.1177/1534484318759399

Decius, J. (2024). Das Potenzial des informellen Lernens am Arbeitsplatz: Ein Überblick zum Status Quo und eine Forschungsagenda. Psychologische Rundschau. Advance online publication. https://doi.org/10.1026/0033-3042/a000686

International Organization for Standardization. (2022). ISO 30422:2022 Human resource management — Learning and development. ISO. https://www.iso.org/standard/76365.html

International Organization for Standardization. (2023). ISO/TS 30437:2023 Human resource management — Learning and development metrics. ISO. https://www.iso.org/standard/68714.html

Tannenbaum, S. I., & Wolfson, M. A. (2022). Informal (Field-Based) Learning. Annual Review of Organizational Psychology and Organizational Behavior, 9(1), 391–414. https://doi.org/10.1146/annurev-orgpsych-012420-083050

Training Industry, Inc. (2024). Learning Measurement for Modern Business: Making Sense of ISO 30437. Abgerufen von https://trainingindustry.com/research/measurement-and-analytics/learning-measurement-for-modern-business-making-sense-of-iso-30437/

Vinsys. (2023, 16. Oktober). Introducing ISO/TS 30437:2023 | Global Learning and Development Metrics. Vinsys Blog. https://www.vinsys.com/blog/iso-ts-30437-global-l-and-d-metrices

Zurück

Mehr Informationen anfordern

Bitte addieren Sie 4 und 7.